Der „vergessene“ Volksaufstand – Ein Beitrag zum 17. Juni von Holger Hase

Holger Hase
Holger Hase

Dieser Beitrag wurde erstmals am 17.6.2020 auf Facebook veröffentlicht.

Von Holger Hase (Kreisverband Dresden)

Die Erinnerung an Freiheitsbewegungen hat es Deutschland nicht leicht, was sicherlich damit zusammenhängt, dass die meisten dieser Selbstbefreiungsversuche gescheitert sind oder in der Rückschau als ambivalentes historisches Ereignisse gedeutet werden. Ein Fallbeispiel dafür ist der Umgang mit dem 17. Juni, dem Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR 1953. Damals machten sich auch hier bei uns in Dresden Tausende auf den Weg, um grundlegende Freiheitsrechte, politische Mitbestimmung und soziale Reformen einzufordern. Auf dem Postplatz, im Herzen der Stadt, waren am 17. Juni 1953 rund zehntausend Dresdnerinnen und Dresdner zusammengekommen, um gegen die SED-Herrschaft zu protestieren. Vergeblich versuchten sie, das Fernmeldeamt zu stürmen. Der Aufstand wurde von sowjetischen Truppen und der Volkspolizei niedergeschlagen.

Daran erinnert gegenwärtig ein zum 55. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 2008 geschaffenes Mahnmal am Postplatz, Ecke Hertha-Lindner-Straße/ Annenstraße. Es stammt von der Dresdner Künstlerin Heidemarie Dreßel und besteht aus einer 5,70 Meter langen Kette eines sowjetischen Panzers vom Typ T-34, wie sie bei der Niederschlagung des Aufstandes zum Einsatz gekommen waren.

Mahnmal zum 55. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni am Dresdner Postplatz
Das Mahnmal zum 55. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni am Dresdner Postplatz (Quelle: Holger Hase)
Müssten nicht gerade wir Ostdeutschen stolz auf diesen Tag sein?

Trotz dieses neugeschaffenen Erinnerungsortes, ist das Thema in unserer Stadtgesellschaft aber nicht verwurzelt, ist der 17. Juni mental nicht im öffentlichen Bewusstsein der sächsischen Landeshauptstadt des wiedervereinigten Deutschland angekommen. Warum ist das so? Müssten nicht gerade wir Ostdeutschen stolz auf diesen Tag sein, dem Marion Gräfin Dönhoff gar das Prädikat „der ersten wirklichen deutschen Revolution“ verliehen hat?

Der 17. Juni als Gedenktag war, und da muss man ehrlich sein, immer ein Projekt des Westens. Die emotionale Wirkung der Bilder vom gescheiterten Volksaufstand im Osten hatte nachhaltigen Einfluss auf die Politik der Bonner Republik. Sie bediente sowohl die antikommunistische Grundstimmung der westdeutschen Gesellschaft als auch das nationale Einheits- und Freiheitsgefühl. Und darum begann bereits unmittelbar nach dem historischen Ereignis seine mythische Verklärung. Durch Gesetz vom 4. August 1953 erklärte der Bundestag den 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit“ und zum gesetzlichen Feiertag. Der Bundespräsident machte ihn 1963 zusätzlich zum „Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes“. Diesem Duktus folgten mehr oder weniger alle bundesdeutschen Regierungen bis 1989.

Für den Westen hatte sich das Thema politisch erledigt

Mit der Erhebung des 3. Oktober zum „Tag der deutschen Einheit“ begann der Bedeutungsverlust des 17. Juni. Es gelang in der Folge nicht, dem Tag unter den veränderten Rahmenbedingungen des wiedervereinigten Deutschland eine gemeinsame Sinnstiftung zu geben. Für den Westen hatte sich das Thema politisch erledigt, im Osten fehlte nach Jahrzehnten der SED-Herrschaft der emotionale Bezug zum historischen Ereignis. Und so „dümpelte“ der 17. Juni vor sich hin, nützlich sicherlich für Stilübungen politischer Stiftungen oder als Aufregerthema im Zusammenhang mit rechtsradikalen Aufmärschen, aber kaum geeignet für eine Meistererzählung zum Thema Freiheit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass heute, am 67. Jahrestag, sich kaum jemand mit diesem deutschen Erinnerungsort identifizieren kann. Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma böte die Weiterentwicklung des Datums zu einem „Gedenktag für die Opfer des SED-Unrechts“, wie es der Freistaat Thüringen 2016 vorgemacht hat – sinnigerweise unter dem Linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. An einem solchen Tag mangelt es im 30. Jahr der Wiedervereinigung im bundesdeutschen Gedenkkanon tatsächlich noch immer. Höchste Zeit, sich darum zu kümmern.

Zum Autor: Holger Hase ist Historiker, Stadtrat und Kreisvorsitzender der FDP Dresden.