Die guten Patrioten – Ein Essay von Robert Malorny

Robert Malorny
Robert Malorny

Dieser Beitrag erschien erstmals am 8.4.2017 in der Rubrik „Perspektiven“ der Sächsischen Zeitung.

Es gibt ein Mittel gegen politische Extreme und Gewalt. An die Werte der Republik darf man auch mal mit Stolz erinnern.

Von Robert Malorny (Kreisverband Dresden)

Das hat mit uns nichts zu tun – dieser Satz verbindet manche Innenpolitiker und Ministerpräsidenten mit Milieuvertretern linker oder nationalkonservativer Parteien und Sprechern von muslimischen Verbänden. Er ist zu einer Chiffre für eine Politik des Wegsehens geworden, für ein Ignorieren von Zusammenhängen und ein Leugnen eigener Verantwortung. Ob bei den sexuellen Angriffen in der Kölner Silvesternacht, bei den vulgären Ausfällen am 3. Oktober in Dresden gegenüber der Bundesregierung oder bei politischen Krawallen; sie alle eint, dass die Geltung des Grundgesetzes in Teilen unserer Gesellschaft relativiert wird.

Am 31. Dezember 2015 missachteten nordafrikanische Männer, die ihre Chance auf ein Leben in Deutschland fordern, am Kölner Hauptbahnhof die Unverletzlichkeit der angegriffenen Frauen. In Dresden fordern Pegida-Anhänger seit zwei Jahren Meinungsfreiheit und offenbarten doch ihr Grundrechts-Unverständnis, wenn sie die Bundeskanzlerin mit ihrem Geschlechtsteil adressierten, als sie nach dem Gottesdienst aus der Frauenkirche trat. Leider waren der Bundeskanzlerin diese Anwürfe schon von einer sächsischen Demonstrantin aus Heidenau 2015 bekannt.

Gravierender aber ist die Alltäglichkeit politischer Gewalt: In Teilen unserer Gesellschaft verurteilt man sie so lange nicht, wie nicht die eigene Person oder Anschauung davon betroffen sind. Auf linken wie rechten Demonstrationen wird einerseits die eigene Gewaltfreiheit behauptet, während man andererseits den Gewalttätern in den eigenen Reihen die Begründung zu ihren Taten an die Hand gibt. Ein ins Revolutionäre verklärter „Kampf gegen das System“ und die Vorstellung einer „politischen Notwehr“ haben sich in Sachsen links wie rechts verstetigt und werden in bedenklichster Weise von immer größeren Teilen der Bevölkerung als Konsequenz politischer Handlungslogik missverstanden. Die Duldung solchen Verhaltens bedeutet dabei nichts anderes als die Aufkündigung des Mindestmaßes demokratischer Kultur aus ihrer Mitte heraus.

Auch der islamistische Fundamentalismus gedieh in Belgien in einer Kultur des Wegsehens. Im Brüsseler Stadtteil Molenbeek waren der Rückzug staatlicher Sicherheitsorgane und das Wegsehen der vielen vor der Gewalt der wenigen die notwendigen Voraussetzungen für die Terroranschläge von Paris, die fast 500 Menschen töteten oder verletzten. Die Gewalt, sie beginnt oft genug mit eben jenem Glauben, das hätte mit uns nichts zu tun.

Das Grundgesetz war die Antwort auf die Schrecken der NS-Herrschaft in Deutschland und über Europa. Die Würde des Menschen und deren Schutz, frei von Verletzung, Demütigung und Willkür, wurden dabei zum Zentralmotiv des 1949 beschlossenen Verfassungstextes. Den einzelnen Menschen von vornherein zum Ausgangspunkt allen staatlichen Handelns zu machen, war das Resultat der traurigen, millionenfachen Gewissheit, dass nichts so verletzlich ist wie die Würde des Menschen. Weit weniger bekannt ist der zweite Absatz des ersten Artikels: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Jeder Einzelne und wir als Gemeinschaft werden an die Verantwortung voreinander gebunden. Folglich war es niemals nur Aufgabe staatlicher Organe, für diese Ziele einzustehen. Würde diese verfassungsmäßige Bedingung politischen Opportunitäten geopfert, weil man sich wegen vermeintlicher Wählerstimmen nicht um das Recht des anderen mehr kümmerte, geriete auch die eigene Würde und Freiheit in Gefahr. Die Zwiespältigkeit, dass die Verantwortung für den anderen immer auch Selbstschutz bedeutet, hob auch der evangelische Theologe Martin Niemöller in seinem berühmten Zitat von 1937 hervor: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Dass er seine jüdischen Mitbürger nicht mehr erwähnte, lag am Umstand, dass er bereits vor der Reichspogromnacht 1938 im KZ Sachsenhausen interniert wurde.

Seit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes in der Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 gehören 16 Millionen Menschen mehr zur Rechte- und Pflichtengemeinschaft der gemeinsamen Republik. Sie traten nach den einzigen freien Wahlen des untergegangenen ostdeutschen Staates freiwillig hinzu. Sie taten es mit der großen Herausforderung, ihren Teil des nun gemeinsamen Landes wieder auf- und fast immer umzubauen. Arbeitslosigkeit, Abwanderung und der Verlust von sicher geglaubten Gewissheiten über die Welt säten tiefe Zweifel, was das Würde- und Freiheitsversprechen für ihr eigenes Leben bedeuten würde.

Manche vagen Hoffnungen der Jahre 1989/90 wandelten sich zu Ernüchterung oder bitteren Enttäuschungen. Kaum eine Familie, die von dieser Entwicklung nicht betroffen war. Und durch die Abwanderung von über einer Million Menschen seit der Wiedervereinigung zerbrachen viele der kleinen Gemeinschaften, die eine Gesellschaft erst von Grund auf zusammenhalten. Wo das Freiheitsversprechen aber ohne Hoffnungen existiert und die Gemeinschaft zu zerbrechen droht, da zerbricht auch das Fundament, auf dem das Grundgesetz ruht.

Seit der letzten Landtagswahl zeigen sich vermehrt die Folgen dieser ideellen Erschöpfung in Sachsen: eine einzigartige Verrohung der politischen Alltagskultur und eine wachsende Gleichgültigkeit vor dem Gebot der Unverletzlichkeit Dritter. Der bisherige Tiefpunkt war der Angriff auf die Wohnung der Familie von Staatsminister Sebastian Gemkow (CDU). Laut jüngsten Anfragen wurden seit 2015 sächsische Bürgerbüros aller im Landtag vertretenen Parteien angegriffen und beschädigt. Insgesamt kam es seit 2014 zu einer Verachtfachung der jährlichen Angriffe auf Politiker in nur zwei Jahren. Nacheinander verwüsteten erst 1 000 linke Extremisten im Dezember 2015 und zwei Monate später 250 Rechte die Leipziger Stadtteile Südvorstadt und Connewitz. 2015 und 2016 waren insgesamt Rekordjahre in Sachen rechtsextremer Gewalt. Und nach Drohungen gegen Heidenaus Bürgermeister Jürgen Opitz (CDU) Mitte 2015 wurde Anfang Februar auch Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) mit Mord bedroht. Morddrohungen aus dem bloßen Umstand, weil sie als demokratisch gewählte Repräsentanten ihr Amt ausüben.

Der jungen sächsischen Demokratie gingen fast sechs Jahrzehnte totalitärer Herrschaft mit Geheimdiensten und politischer Gewalt voraus. Es war voreilig zu glauben, dass sich ein tiefer wurzelndes Vertrauen wie von allein mit der Zeit einstellen würde. Der Satz „Das hat doch alles nichts mit uns zu tun!“ – er könnte dieser Tage nicht falscher sein.

Die Herausforderungen der letzten Jahre wurden komplexer wie unser Leben generell. Gegen diesen Umstand nur zu protestieren, wird am Ende nichts nützen. Hilfreicher, als sich der eigenen Wut und Ohnmacht zu ergeben, ist es, nach reiflicher Überlegung einen klaren Lösungsvorschlag zu entwickeln und mit erneuerten demokratischen Mehrheiten den Weg unseres Landes gemeinsam zu bestimmen. Sich zwischen Hoffnung und Realismus auf pragmatische Lösungen zu konzentrieren, bleibt dabei mein Verständnis einer verantwortungsvollen und zukunftsfähigen Politik.

Wir werden daher in diesem Jahr der Bundestagswahl die Ziele der inneren Sicherheit und der Justiz ebenso wie den Kern unserer Demokratie und unserer Verfassungskultur debattieren müssen. Wie viele Polizeibeamte brauchen wir? Welche Ausrüstung und Ausbildung benötigen sie? Und welche Entlohnung verdienen sie, um ihren Aufgaben gerecht zu werden? Unsere Gerichte müssen lernen, die Flut der Fälle, jüngst der Beleidigungen und Drohungen in den sozialen Medien, zeitgerecht abzuurteilen. Wie organisieren wir den Verfassungsschutz?

Es bedarf weder eines saarländischen Geheimdienstes in Kommunalgröße noch der kleinteilig denkenden Bürokratie, die die gescheiterte Aufklärung des Terrorismus von NSU und Dschaber al Bakrs mit zu verantworten hat.
Aber vor allem: Wie beleben wir unsere Gesellschaft als Rechte- und Pflichtengemeinschaft des Grundgesetzes neu? Wie schaffen wir es, Würde und Freiheit jedes Menschen in Deutschland zu wahren? Es ist an uns, neue Perspektiven und Hoffnungen für unser Land zu entwerfen, damit neues Zutrauen bei denen entsteht, die nicht mehr glauben können oder wollen, dass die liberale, offene Gesellschaft immer noch die besten Entwicklungschancen für jeden Einzelnen und uns, als Ganzes, bietet.

Ralf Dahrendorf beschrieb das Gefühl der Krise und der Veränderung als das „Niemandsland zwischen verlorener Vergangenheit und einer noch nicht eingetroffenen Zukunft“. In diesem Bewusstsein müssen wir uns heute entscheiden, welche unsere Taten von morgen werden und was unsere eigene Geschichte von übermorgen werden soll.