Verfassungspatriotismus! – Rede von Holger Hase auf dem Liberalen Maifest

FDP-Kreisvorsitzender Holger Hase eröffnet das Liberale Maifest
FDP-Kreisvorsitzender Holger Hase eröffnet das Liberale Maifest

Diese Rede wurde am 23.5.2016 im Rahmen des vom FDP-Kreisverband Dresden veranstalteten „Liberalen Maifests“ gehalten.

Von Holger Hase (Kreisverband Dresden)

Liebe Parteifreunde,
werte Gäste,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie ganz herzlich zur heutigen Abendveranstaltung der Dresdner FDP, die den Namen „Liberales Maifest“ trägt und freue mich über Ihr zahlreiches Erscheinen. Normalerweise verbindet man dem Monat Mai nicht unbedingt liberales Gedankengut. Am 1. Mai wird seit nunmehr über 150 Jahren in Deutschland demonstriert, fordert die politische Linke die soziale Umverteilung und beschwört die große, mittlerweile angestaubte, Internationale. Schlagworte die eher selten im Sprachgebrauch eines Liberalen auftauchen, die manchem hier im Raum vielleicht sogar einen kalten Schauer über dem Rücken laufen lassen.

Und doch ist der Monat Mai auch für uns von Interesse, hat also durchaus einen liberalen Bezug. Dies begründet sich zum einen aus unserer Geschichte heraus. Am 27. Mai 1832 fand auf Schloss Hambach in der Pfalz die größte politische Willensbekundung im Zeitalter des Vormärz statt. Mehr als 25.000 Teilnehmer zeigten, dass sich freiheitliches Gedankengut auf Dauer eben nicht durch Repression unterdrücken lässt – was übrigens ein zeitloser Gedanke ist. Und so erinnern wir uns im Mai an einen Meilenstein der deutschen Demokratiegeschichte und einen großen Sieg des politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert. Sie sehen, das Titelbild unserer Einladungskarte war also bewusst gewählt.
Der zweite Punkt, warum der Mai durchaus als ein „liberaler Monat“ angesehen werden kann, hängt mit dem heutigen Datum zusammen. Wie Sie der Veranstaltungsankündigung entnehmen konnten, haben wir unser Maifest bewusst auf den 23. Mai gelegt. Es ist der Tag, an dem 1949 das Grundgesetz in Kraft trat – mithin also unser Verfassungstag.

Ich glaube ich muss in diesem Raum niemanden erklären, welche überragende Bedeutung dieses Datum für die jüngere deutsche Geschichte hat – und natürlich auch für uns Liberale. Als Partei der Freiheit, die in ihrem politischen Denken und Handeln grundsätzlich immer vom Individuum ausgeht, muss dieser Tag ein ganz besonderer sein. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass namehafte Liberale wie Theodor Heuss oder Thomas Dehler zu den Vätern des Grundgesetzes gehörten. Vielmehr ist es der weitgehende Schutz der Individualrechte der Bürgerinnen und Bürger – einmalig in der deutschen Geschichte bis heute – welcher für uns Anlass und Verpflichtung zugleich sind, sich dieses Tages zu erinnern.

Aber keine Angst, dies soll heute kein Oberseminar in deutscher Verfassungsgeschichte werden – obwohl, wie wir ja aus den Medien wissen, historisch-politische Bildung gerade auch bei uns in Sachsen bitter Not tut! Lassen Sie uns stattdessen einen Blick auf die aktuellen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Thema „Verfassung“ werfen. Ich denke es lohnt sich, schon allein aufgrund der Tatsache, dass in letzter Zeit in Dresden viele sogenannte Patrioten unser Gemeinwesen verunsichern, die Grundlagen unserer Werteordnung zu reflektieren und sich bewusst zu machen, wofür wir eigentlich stehen. Ich glaube, dies ist auch so manchem Parteifreund nicht immer ganz klar. Von daher dient dieser Abend auch der Selbstbestimmung und Orientierung.

Heute vor 67 Jahren wurde also die Basis für eine tragfähige, stabile Demokratie in Deutschland geschaffen. Aus den Trümmern eines zerstörten Kontinents hat sich mittlerweile eine Insel des Wohlstands und der Sicherheit in einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt entwickelt. Viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sind zu Recht stolz auf das Erreichte und die Rollen des gegenwärtigen Deutschlands in der Welt. Wir sind wieder wer und haben uns unseren Platz in der internationalen Staatengemeinschaft redlich verdient. Doch wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand brauchen stets ein geistiges Fundament, einen von allen akzeptierten Wertekanon. Dies gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn Wohlstand und Wirtschaftswachstum scheinbar oder tatsächlich gefährdet sind. Für den einzelnen kaum noch durchschaubare Prozesse, wie die Globalisierung, die Eurokrise oder die Flüchtlingswelle, haben in den letzten Jahren zu einer großen Verunsicherung bei vielen Menschen in unserem Land beigetragen. Das Bedürfnis nach Orientierung scheint groß. Doch wie sieht es mit der Befriedung dieses Bedürfnisses aus? Welche Angebote unterbreitet die Politik? Welche Hilfestellung leistet sie in dieser Frage?

An dieser Stelle ließe sich nun weiter fragen, was haben wir liberale Demokraten für eine Antwort auf diese Herausforderung? Wie sieht denn unser Angebot an den verunsicherten Bürgerinnen und Bürger aus? Um es vornweg zu nehmen: Ich glaube wir haben als Partei momentan diesbezüglich nicht viel anzubieten! Natürlich kennen wir uns gut mit der Wirtschaft aus, setzen uns für eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft ein, wollen jedem Menschen in Deutschland ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Sicherheit ermöglichen. Doch geht es um Werte und Normen, unser Verhältnis zur Nation, zur Religion oder sonstigen Dingen aus dieser Kategorie, so muss man leider eine gewisse Einsilbigkeit des organisierten Liberalismus konstatieren. Dann wird häufig mit einem diffusen Freiheitbegriff – unter dem jeder etwas anderes versteht – operiert. Unser Profil ist an dieser Stelle unscharf und ich denke, dies ist auch ein Problem – wenn auch nicht das Einzige – warum uns viele Menschen in den letzten Jahren nicht mehr gewählt haben.

Aber auch andere Parteien geben hier wenig Orientierung. Für welche Werte tritt die CDU ein, für welche die SPD? Die Konturen dieser beiden prägenden Parteien des Nachkriegsdeutschlands verschwimmen. Wohin dies führt, sehen wir in Österreich. Die Grünen haben ihr Thema Umweltschutz in der Mitte der Gesellschaft platziert. Wir schalten alle Atomkraftwerke ab, während dessen unsere Nachbarn neue bauen, Bioläden sprießen wie Pilze aus dem Boden wohlhabender Stadtteile. Wir haben uns selbst Fesseln angelegt, in dem wir weite Teile unseres Landes zum Naturschutzgebiet erklärten und uns Planungsverfahren gaben, die die Durchführung von großen Infrastrukturprojekten undurchführbar machten. Aber gibt uns dies eine neue Orientierung?

Das Bedürfnis nach Orientierung hat mittlerweile Kräfte geweckt, von denen wir glaubten, sie hätten für uns keine Relevanz mehr. Der Nationalismus ist aber nicht tot! In Zeiten der Krise ist die Rückbesinnung auf die eigene Nation ein beliebtes Muster, um Stabilität und Halt zu erlangen. Unsere osteuropäischen Nachbarn führen uns gerade deutlich vor Augen wie das geht. Doch man muss nicht nur auf Orban, Zemann und andere Populisten des Ostens schimpfen. Im Westen sieht es nicht besser aus, Front National und BREXIT lassen grüßen. Vor solchen Tendenzen ist auch ein sich selbst als postnational verstehendes Deutschland mit seiner schwierigen Geschichte nicht gefeit. Viele in unserer politischen und medialen Elite mochten so etwas glauben, allein die Wahlerfolge der AfD und die Pegida-Bewegung haben sie eines besseren belehrt.

Doch wie reagiert man auf stumpfen Nationalismus, der vielerorts seine völkischen Wurzeln kaum mehr kaschieren kann und will? Wie nimmt man Geschichtsklitterern und Weltverschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln? Ich hatte in diesem Jahr das Privileg bei der Zentralen Gedenkstunde des Freistaates Sachsen für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine bemerkenswerte Rede von Charlotte Knobloch, der ehemaligen Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, zu hören. Ich möchte daraus zitieren:
„Seit vielen Jahren fordere ich einen aufgeklärten Patriotismus, ein historisch geläutertes, souveränes deutsches Selbstbewusstsein. Die aktuelle Situation verleiht dem Brisanz: Wir müssen endlich stolz und selbstbewusst einen beherzten, kultur- und werteorientierten Patriotismus vertreten – und zwar nicht trotzt unserer schrecklichen Vergangenheit, sondern ihretwegen. Nur wer stolz auf seine Heimat ist, auf seine Identität, wer sich leidenschaftlich und kämpferisch zu unserer Demokratie bekennt, hat die Stärke und den Mut, für ihre Werte einzustehen“.
– Zitat Ende –
Für uns Demokraten bedeutet das: Wir müssen Vorbilder sein und unsere Werte vorleben. Wir dürfen den Patriotismus nicht den Falschen überlassen. Politik und Gesellschaft müssen ein „Wir“-Gefühl formen, dass uns stark macht – nicht laut –, das uns Kraft gibt – nicht schwächt –, das uns eint – nicht spaltet.

Ein solcher „Werte- oder Verfassungspatriotismus“ kann ein wirksames Gegenmittel zu einem an ethnischen Gesichtspunkten ausgerichteten nationalen Selbstverständnis der Rechtspopulisten sein. Die Staatszugehörigkeit beruht diesem Konzept zufolge auf gemeinsamen politischen Werten wie Demokratie und Meinungsfreiheit statt auf Abstammungs- oder Sprachgemeinschaften. Gleichwohl bedarf es hierzu einiger Anstrengungen, denn obwohl das Konzept des Verfassungspatriotimus seit Jahrzehnten als Schlagwort durch intellektuelle Diskurse geistert, hat es im politischen Alltagsgeschäft bisher kaum Verankerung gefunden. Unserem demokratischen Verfassungsstaat haftet das „Pathos der Nüchternheit“ an – wie ich finde, zu Unrecht! Die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik gründet sich zwar vor allem auf Rationalität von Rechten, abstrakten Werten und Verfahren. Sie appelliert an die Vernunft und den kritischen Sachverstand des Staatsbürgers, muss überzeugen, nicht überreden wollen, setzt auf den öffentlichen Diskurs und die pluralistische Willensbildung und spekuliert nicht auf Suggestion und Faszination der Massen durch die Inszenierung staatlicher Macht und nationaler Größe und Mission.

Das heißt aber nicht, dass unsere Demokratie langweilig sein muss, keine Möglichkeiten hat Menschen emotional und mental mitzunehmen. Daher müssen wir versuchen, der Bevölkerung ein attraktives Identifikationsangebot zu machen. Jeder Staat ist auch sinnlich wahrnehmbar – durch seine Flagge, die Hymne, seine Jahrestage, nationale Denkmäler und Staatsbauten. Er muss für die Menschen, die in ihm leben und sich mit seiner Verfassung identifizieren sollen, auch symbolisch sinnfällig werden. Das ist in Deutschland schwieriger als anderswo. In unserer Nationalsymbolik spiegelt sich ein langer, wenig erfolgreicher Kampf um Freiheit, nationale Einheit und Demokratie wider – mit Niederlagen, gescheiterten Revolutionen, Systembrüchen, Kriegen und Gewaltverbrechen. Doch darin liegt letztendlich auch eine Chance. Der nicht immer gerade Weg zu unserer heutigen Form der Demokratie zeigt doch auch, dass langfristig gesehen der Wunsch nach Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtstaatlichkeit sich immer durchsetzt, egal welche Rückschläge es unterwegs auch gibt. Und mit diesem Gedanken sind wir mitten im Herzen der liberalen Idee angekommen. Gerade deshalb muss es uns auch ein ganz besonderes Anliegen sein, diese Dinge hochzuhalten, sie bewusst und aktiv nach außen, in die Gesellschaft hinein, zu tragen.

Dass sich Liberale mit Begriffen wie „Heimat“ und „Patriotismus“ prinzipiell schwertun hat Hans Vorländer 2009 in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage zum Thema „Grundgesetz“ wissenschaftlich nachgewiesen. Anhänger von CDU und SPD zeigen sich demnach weitaus „stolzer“ auf Grundgesetz, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als die Anhänger der FDP, der Linken oder der Grünen. Bei den „staatstragenden“ Volksparteien fallen die Reaktionen auf Schlagworte wie „Ich liebe mein Land“, „Ich würde kämpfen, um mein Vaterland zu verteidigen“ und „Ich freue mich, wenn ich die schwarz-rot-goldene Bundesflagge sehe“ deutlich positiver aus, als bei den kleineren politischen Mitbewerbern. Das ist er wieder, der alte Staatsskeptizismus. Und natürlich würde niemand in der FDP bei einer solchen Veranstaltung wie der heutigen oder nach einem Parteitag auf die Idee kommen, unsere Nationalhymne anzustimmen. Warum eigentlich nicht? Sind wir so wenig von uns selbst, unsere Werten, unserer Geschichte und unseren Traditionen überzeugt?

Überlassen wir dieses Feld bitte nicht einfach einer deutschtümelnden AfD oder den Pseudo-Patrioten von Pegida. Was spricht dagegen, sich als moderner Verfassungspatriot – dem Wertekanon des Grundgesetzes verpflichtet – zur eigenen Heimat, zur deutschen Nation oder zu der mit zahlreichen Brüchen versehenen Geschichte zu bekennen? Machen wir die Unterschiede deutlich zwischen denen und uns. Zeigen wir, dass ein modernes, aufgeklärtes Deutschland keinen Rückfall in nationalistische Stereotype der Vergangenheit wünscht. Unterbreiten wir aber anderseits auch Angebote und geben Orientierung. Erfüllen wir unsere Verfassung mit Leben. Darin liegt meiner Überzeugung nach eine wichtige Gestaltungsaufgabe für den modernen Liberalismus. Dies geht sicherlich nicht von heute auf morgen. Es müsste diesbezüglich überhaupt erst einmal ein „Problembewusstsein“ geschaffen werden. Deshalb sind Veranstaltungen wie am heutigen Abend wichtig und nötig. Sie dienen der Selbstverortung, der Ideenfindung und dem Diskurs.

Dabei ist es immer gut, sich Anregungen von außen zu holen, sich mit den Gedankengängen anderer auseinanderzusetzen. Ich freue mich deshalb ganz besonders, Ihnen nun einen Mann ankündigen zu können, der sich schon oft und sehr intensiv mit unserer Verfassung beschäftigt hat, dies aber nie als reine juristische Paragrafenreiterei betrieb. Maximilian Steinbeis ist Jahrgang 1970 und sicher einer der profiliertesten und bekanntesten publizistischen Streiter für unsere Verfassung. Seit 1996 schreibt der studierte Jurist über politische und rechtliche Themen. 1997/98 wirkte er als Autor an der Ausstellung „In bester Verfassung?! 50 Jahre Grundgesetz“ der Bundeszentrale für politische Bildung und der Bundesrechtsanwaltskammer mit. Von 1999 bis 2008 arbeitete er als Politikredakteur und Korrespondent für das Handelsblatt. Seither ist er als freier Rechts- und Verfassungspublizist tätig und schreibt u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und das Deutschlandradio. Seit 2009 betreibt Maximilian Steinbeis die Internetplattform Verfassungsblog.de, auf der verfassungsrechtliche und -politische Themen aus dem In- und Ausland behandelt werden. Im gleichen Jahr veröffentlichte er anlässlich des 60. Jahrestages des Inkrafttretens des Grundgesetzes gemeinsam mit Marion und Stephan Detjen eine Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland unter dem Titel „Die Deutschen und ihre Verfassung“.
Ich glaube wir hätten für diesen Abend kaum einen besseren Redner finden können und bin bereits gespannt, an welchen Überlegungen Sie, lieber Herr Steinbeis, in wenigen Augenblicken, uns teilhaben lassen werden. Ich wünsche uns allen einen anregenden Abend mit informativen Gesprächen. Bleiben Sie uns gewogen und zeigen Sie Flagge denjenigen gegenüber, die Misstrauen und Zweitracht in unserem Land schüren.

Gastredner Maximilian Steinbeis spricht über Verfassungspatriotismus
Gastredner Maximilian Steinbeis spricht über Verfassungspatriotismus

Hintergrund: Bereits zum zweiten Mal feierten die Dresdner Freien Demokraten ihr Liberales Maifest. Am 23. Mai 2016 trafen sich rund 90 Freunde und Mitglieder der FDP Dresden im Holiday Inn auf der Stauffenbergallee. Holger Hase, FDP-Kreisvorsitzender, und Maximilian Steinbeis, Publizist und Betreiber des erfolgreichen Verfassungsblog.de, hielten zwei thematische Reden zum Schwerpunkt Verfassungspatriotismus.

Zum Autor: Holger Hase ist Historiker und Kreisvorsitzender der FDP Dresden.